Zwei kleine blonde Mädchen saßen allein an einer Bushaltestelle mit einem Zettel: „Bitte kümmert euch um sie.“ Mein Bruder Jakob und ich waren gerade von unserem samstäglichen Kaffeeausflug mit den Motorrädern zurück, als wir sie sahen.
Sie trugen gelbe Warnwesten, wie sie Bauarbeiter nutzen. Um sieben Uhr morgens war keine Menschenseele in Sicht.
Jakob bremste sein Motorrad zuerst ab, und ich hielt neben ihm. Irgendetwas stimmte nicht. Kinder in diesem Alter sitzen nicht allein an Bushaltestellen.
Als wir näher kamen, sah ich, dass die Jüngere weinte, während die Ältere ihren Arm schützend um sie legte.
Zwischen ihnen lagen eine braune Papiertüte und ein blauer Luftballon, der an der Bank festgebunden war. Jakob und ich tauschten einen Blick, stellten die Motoren ab und gingen langsam auf sie zu, um sie nicht zu erschrecken.
„Hey, ihr Kleinen“, sagte Jakob sanft und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe zu sein. „Wo ist eure Mama?“
Die Ältere sah uns mit den traurigsten Augen an, die ich in meinen dreiundsechzig Jahren je gesehen hatte. Sie deutete auf die Tüte. „Mama hat uns einen Zettel hinterlassen, damit uns jemand Nettes findet.“
Mir fiel das Herz in die Hose. Jakob nahm vorsichtig die Tüte, während ich die Mädchen im Auge behielt. Drinnen waren ein Brot, zwei Saftboxen, Wechselkleidung und ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Jakobs Hände zitterten, als er es öffnete. Sein Gesicht wurde aschfahl, dann reichte er es mir wortlos weiter.
Die Schrift war verzweifelt und kaum lesbar: *„An diejenigen, die Lina und Marie finden—ich kann nicht mehr. Ich bin krank und habe keine Familie, kein Geld. Sie verdienen mehr, als mit mir in unserem Auto zu sterben. Bitte passt auf sie auf. Sie sind gute Mädchen. Es tut mir so leid. Ihre Geburtstage sind der 3. März und der 12. April. Sie mögen Pfannkuchen und Gutenachtgeschichten. Lasst sie mich nicht vergessen, aber gebt ihnen ein besseres Leben. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.“*
Das war alles. Kein Name, keine Telefonnummer, keine Adresse. Nur zwei kleine Mädchen in grellgelben Westen, damit sie jemand bemerkte, mit einem Luftballon, damit es aussah, als warteten sie auf eine Feier, statt verlassen worden zu sein.
Ich blickte zu Jakob und sah Tränen in seinen Bart rollen. In vierzig gemeinsamen Jahren hatte ich ihn noch nie weinen sehen.
„Wie heißt ihr denn, Süße?“ fragte ich mit brüchiger Stimme. „Ich bin Lina“, sagte die Ältere. „Sie ist Marie. Sie redet nicht viel, weil sie schüchtern ist. Mama hat gesagt, jemand Nettes findet uns und bringt uns in Sicherheit. Seid ihr nett?“ Jakob stieß ein halb ersticktes Lachen aus.
„Ja, Mäuschen. Wir sind nett. Wir kümmern uns um euch.“
Ich griff nach dem Handy, um die Polizei zu rufen, doch Jakob hielt meinen Arm fest. „Warte. Nur… eine Sekunde.“
Er wischte sich die Tränen ab und sah die beiden an—mit ihrer Papiertüte und dem Luftballon. Ich wusste, was er dachte. Denn mir ging es genauso.
Wir sind alte Rocker. Hatten nie eigene Kinder. Jakobs Frau verließ ihn vor dreißig Jahren, weil sie keine Familie gründen konnten. Meine Verlobte starb, bevor wir die Chance dazu hatten.
Unser ganzes Leben lang waren wir die gruselig aussehenden Typen, vor denen Eltern ihre Kinder wegziehen.
Und nun vertraute eine Mutter darauf, dass irgendjemand—irgendwer—ihren Kindern das geben würde, was sie selbst nicht konnte, in welcher Hölle sie auch steckte.
„Wir sollten anrufen“, flüsterte ich. „Sie brauchen die Polizei, das Jugendamt, Leute, die sich auskennen.“
Doch plötzlich sprach Marie zum ersten Mal. „Keine Polizei. Ihr.“ Sie packte Jakobs Kutte mit ihren kleinen Händen. „Ihr bleibt.“
Jakob brach zusammen. Dieser riesige, tätowierte, bärtige Rocker, der aussah, als könnte er einen Mann zermalmen, fiel einfach in sich zusammen.
Er zog beide Mädchen an sich und hielt sie fest, als wären sie das Kostbarste auf der Welt. „Ich hab euch“, murmelte er. „Ich hab euch beide. Ihr seid sicher jetzt. Versprochen.“
Ich rief die Polizei. Innerhalb von zehn Minuten waren drei Streifenwagen und ein Jugendamt-Van da. Eine freundliche Frau namens Petra kam mit einem Klemmbrett.
„Wir bringen die Mädchen vorübergehend in Obhut, während wir nach Angehörigen suchen“, erklärte sie sanft. „Sie haben Großartiges getan, anzuhalten.“
Lina und Marie weinten. „Nein, nein“, flehte Lina und klammerte sich an Jakob. „Wir wollen bei den Motorradmännern bleiben. Bitte. Mama hat gesagt, jemand Nettes findet uns, und ihr seid nett, und wir wollen euch.“
Petra wirkte unsicher. „Ich verstehe, Schätzchen, aber so funktioniert das nicht. Diese Männer sind Fremde. Wir haben geprüfte Pflegefamilien—“
„Wie lange dauert es, Familie zu finden?“ unterbrach Jakob. Petra zögerte. „Mit so wenig Informationen… Wochen oder Monate. Falls niemand gefunden wird, kommen sie ins Pflegesystem.“
Ich sah Jakobs entschlossenen Blick und wusste, was er vorhatte. „Was, wenn wir die Notpflegestelle wären? Sofort. Heute. Egal welche Papiere, Hintergrundchecks—wir machen es.“
Petra war perplex. „Das ist nicht so einfach. Es gibt Zertifizierungen, Hausbesuche, Schulungen—“
„Wie lange?“ Jakobs Stimme war hart. „Wie lange für eine Notfallbetreuung, bis das geregelt ist?“
Nach einem leisen Gespräch mit ihrer Vorgesetzten kam die Antwort: „Angesichts der Umstände und der Bindung der Kinder zu Ihnen… Wenn Sie saubere Führungszeugnisse und ein geeignetes Zuhause haben, könnten wir eine 72-Stunden-Aufnahme genehmigen, während wir das Pflegeverfahren beschleunigen. Aber seien Sie ehrlich—das ist höchst ungewöhnlich.“
„Machen Sie die Checks“, sagte ich. „Wir sind Veteranen, keine Vorstrafen, eigene Häuser. Mitglieder im Veteranen-Motorradclub. Wir machen Benefizfahrten für Kinderkliniken. Sie werden sehen—wir sind genau die, für die wir uns ausgeben.“
Jakob fügte hinzu: „Und wir geben diese Mädchen nicht an Fremde, nachdem sie heute schon einmal zurückgelassen wurden. Keine Chance.“
Es dauerte vier Stunden—Formulare, Telefonate, Überprüfungen—während Lina und Marie zwischen uns auf der Bank saßen, Brot aßen und Saft tranken.
Jakob holte Nuggets und Apfelschnitze. Ich kaufte Malbücher. Wir zogen Grimassen und erzählten Geschichten von unseren Motorrädern, bis sie lächelten.
Als Petra zurückkam, hielt sie Papiere: „Gentlemen, wissen Sie, worauf Sie sich einlassen? Diese Kinder haben Trauma. Sie brauchen Therapie, Stabilität, Geduld—“
„Wir wissen“, sagte Jakob. „Und sie werden sie haben.“
Das war vor drei Monaten. Jakob und ich sind jetzt offiziell Pflegeväter. Donnerstags besuchen wir Erziehungskurse.
Unsere Clubbrüder bauten Etagenbetten und strichen das Zimmer rosa mit weißen Gänseblümchen. Lina kommt bald in den Kindergarten. Marie redet jetzt—ohne Pause. Sie nennen uns „Herr Jakob“ und „Herr Thomas“.
Ihre Mutter fanden wir nie. Die Polizei entdeckte ein verlassenes Auto mit Kleidung, leeren Medikamentenpackungen und einem Foto zweier blonder Mädchen.
Die ErmIhr Foto steht auf unserem Wohnzimmerschrank, und wir werden ihnen eines Tages erzählen, wie sehr ihre erste Mama sie liebte—genug, um sie loszulassen, damit sie ein Leben bekommen, das sie ihnen nicht geben konnte.



