**Tagebucheintrag:**
Die Sozialarbeiterin sagte uns, die Bitte der sterbenden Mutter sei unmöglich, doch wir waren 2.000 Kilometer gefahren, um es direkt von ihr zu hören.
Mein Bruder im Geiste, Tom, und ich standen um 23 Uhr in diesem Flur des Jugendamts, noch immer in unseren staubigen Kutten, und warteten darauf, dass man sie brachte.
Wir kannten diese Frau nicht. Ihr Name war uns erst seit drei Tagen bekannt. Doch ihre Schwester hatte unseren Veteranen-Motorradclub angerufen, und ihre Bitte hatte jeden von uns im Clubhaus zerrissen:
„Meine Schwester hat Krebs im Endstadium und vier Kinder unter neun Jahren. Der Vater sitzt im Gefängnis. Sie hat nur noch Wochen zu leben, und das Jugendamt wird sie auf verschiedene Pflegefamilien verteilen.“
Ihre Stimme brach. „Sie hat von euren Weihnachtsfahrten und den Kindern gehört, denen ihr geholfen habt. Sie fleht darum, dass jemand ihre Kinder zusammenlässt.“
Die Leiterin des Heims hatte am Telefon klar gemacht: „Zwei alleinstehende Männer in den Fünfzigern ohne Erziehungserfahrung können nicht vier traumatisierte Kinder adoptieren. Das ist keine persönliche Entscheidung, sondern Vorschrift.“
Aber wenn wir sie treffen und für sie spenden wollten, seien wir willkommen.
Wir kamen trotzdem. Tom und ich hatten vielleicht zehn Minuten geredet, dann wussten wir beide, dass wir fahren würden.
Wir hatten beide Familien verloren – meine durch die Scheidung vor zwanzig Jahren, seine durch einen Unfall, der seine Frau und seinen Sohn nahm.
Jahrzehntelang waren wir vor diesem Schmerz davongerast. Doch irgendwann reichte das nicht mehr.
Die Tür öffnete sich, und eine Schwester schob sie herein. *Anja*. Zweiunddreißig, doch sie sah aus wie fünfzig.
Der Krebs hatte ihr Gewicht, ihre Haare, ihre Farbe genommen. Doch ihre Augen – sie waren wild, lebendig und verzweifelt.
Hinter ihr kamen vier Kleine, von zwei bis acht, an den Händen eine Kette bildend. Die Älteste hielt die Hand der Jüngsten so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie hatten gelernt, sich nicht loszulassen.
Das zerriss mich an dieser Stelle.
Anja sah zu uns auf – zwei große, bärtige Biker in Leder und Patches – und lächelte. „Ihr seid gekommen“, flüsterte sie. „Katrin sagte, ihr wärt verrückt genug, aber ich habe es nicht geglaubt.“
Sie begann zu weinen. „Ihr seid gekommen.“
Tom kniete nieder, bis er auf Augenhöhe mit ihr war. Ich bin 1,90, Tom 1,95, und wir sehen aus wie die Bauarbeiter, die wir sind.
Aber seine Stimme war sanft. „Frau Weber, Ihre Schwester erzählte uns von Ihrer Situation. Wir wollten Sie und Ihre wunderschönen Kinder treffen.“
Die Kinder starrten uns an, als wären wir Bären, die ins Gebäude spaziert waren. Die Zweijährige versteckte sich hinter ihrer achtjährigen Schwester.
Anja griff nach Toms Hand. „Ich sterbe. Die Ärzte geben mir noch einen Monat. Meine Kinder werden auseinandergerissen. *Lena* ist acht, *Jonas* sechs, *Sophie* vier, *Lina* zwei. Sie waren noch nie getrennt. Sie haben Angst.“
Sie zögerte. „Das System wird sie trennen, weil niemand vier Kinder auf einmal will – besonders…“
„Besonders was?“, fragte ich leise.
Sie senkte den Blick. „Besonders vier Kinder mit ausländischen Wurzeln, deren Vater im Gefängnis sitzt und deren Mutter im Heim stirbt.“
„Ich kenne die Statistiken. Ich weiß, was im System mit Kindern wie meinen passiert. Ich war selbst dort. Es bricht dich.“
Dann sah sie uns wieder an. „Aber ich habe von euch gehört. Die Weihnachtsfahrten. Die Kinder, die ihr beschützt. Katrin zeigte mir den Artikel über das Begräbnis, das euer Club bezahlt hat. Vielleicht, nur vielleicht, könntet ihr meine Kinder zusammenhalten.“
Die Achtjährige, Lena, trat vor. Klein, mit großen Augen und beschützendem Zorn.
„Wollt ihr uns auseinanderreißen?“, fragte sie scharf. „Dann renne ich weg und nehme meine Geschwister mit. Ich habe Mama versprochen, dass wir zusammenbleiben.“
Ich kniete mich hin. „Lena, wir sind nicht hier, um euch zu trennen. Wir sind hier, weil deine Mama uns gebeten hat.“
Ich sah Anja an. „Frau Weber, ich will ehrlich sein. Tom und ich sind nicht verheiratet. Wir sind nicht reich. Nur Bauarbeiter, die am Wochenende Motorrad fahren.“
„Aber wir sind Veteranen, haben saubere Akten und wissen, wie es ist, alles zu verlieren. Und wir wissen, wie es ist, sich zu wünschen, jemand wäre da gewesen.“
Tom sprach weiter. „Die Sozialarbeiterin sagte, wir könnten nicht alle vier adoptieren. Vorschrift. Doch Vorschriften kann man ändern. Unser Club hat sechzig Brüder – Väter, Großväter, Anwälte, Lehrer.“
„Wenn Sie wollen, dass wir kämpfen – dann kämpfen wir. Bis zum Schluss.“
Anja brach in Tränen aus. Kein leises Weinen – tiefe, erschütternde Schreie.
Die Kinder stürzten zu ihr, umarmten sie, streichelten ihre Arme.
Jonas, der Sechsjährige, sah uns mit Tränen an. „Werdet ihr unsere Papas? Mama sagte, vielleicht kämen Engel. Seid ihr Engel?“
Toms Stimme brach. „Nein, Kleiner. Nur zwei alte Biker. Aber wir beschützen euch wie Engel.“
Sophie zog an meiner Kutte. Sie zeigte auf mein Deutschland-Patch. „Oma hatte diese Flagge“, flüsterte sie. „Bevor sie in den Himmel ging.“
Ich schluckte. „Meine Mama hat mir das gegeben. Sie ist auch im Himmel. Vielleicht sind sie Freundinnen.“
Sophie überlegte, dann hob sie die Arme.
Ich nahm sie hoch. Sie umarmte meinen Hals. „Du riechst nach draußen. Nach dem guten Draußen.“
Tom hob Lina auf, die sofort an seinem Bart zog. „Sanft, Kleines“, flüsterte Anja, doch Tom lachte nur. „Passt schon. Schlimmeres gab’s.“
Wir verbrachten zwei Stunden dort. Anja erzählte uns alles – Lieblingsessen, Ängste, Träume.
Lena wollte Lehrerin werden. Jonas liebte Dinos. Sophie hatte Angst im Dunkeln. Lina schlief nicht ohne ihren Stoffhasen.
Anja erzählte vom Vater – einem guten Mann, der falsche Entscheidungen traf und nun acht Jahre saß. Sie hatte drei Jobs gehabt, doch der Krebs kam schnell und brutal.
„Ich will nicht, dass sie mich vergessen. Oder denken, ich hätte sie im Stich gelassen.“
Sie packte meine Hand. „Versprecht ihr, dass ihre Mama sie liebte? Dass sie gekämpft hat, bis sie nicht mehr konnte?“
Wir versprachen es.
Die Heimleiterin holte uns ins Büro. „Ich verstehe Ihr Anliegen, aber der Staat gibt vier Kinder nicht an zwei unverheiratete Männer ohne Erfahrung.“
Ich sah sie an. „Dann nehmen wir sie als Pflegekinder. Wir machen jeden Kurs. Jede Prüfung.“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie verstehen das System nicht.“
„Nein“, sagte Tom. „*Sie* verstehen Brüder nicht. Wir lassen niemanden im Stich.“
Wir riefen unseren Clubpräsidenten an. Innerhalb eines Tages hatten wir fünfzehn Brüder am Telefon.
Einen Anwalt für Familiengerichte. Drei Mitglieder im Jugenddienst. Frauen der Brüder, die uns halfen. Unser Clubhaus wurde zum Kommandozentrum.
Die Lokalzeitung schrieb: *„Biker kämpfen um Adoption sterbender Mutter.“* Es ging viral.
Spenden, Politiker, ein ehemaliger Richter – der Druck wurde enorm.
Drei Wochen später bekamen wir die Not-PflegschaftWir standen an ihrem Grab, vier kleine Hände in unseren großen, und wussten, dass wir ihr Versprechen für den Rest unseres Lebens halten würden.



