Der Nachmittagssonnenstrahl fiel durch die Kristalllüster des Ritterbach-Anwesens und warf goldene Lichter auf die Marmorböden. Kellner in weißen Handschuhen huschten zwischen den Gästen hindurch, die Sektgläser in Händen hielten. Im Hintergrund spielte ein Streichquartett leise eine Melodie.
Es hätte eine weitere Machtdemonstration sein sollen – eine weitere Inszenierung in der perfekt kontrollierten Welt des Milliardärs Friedrich Ritterbach.
Doch dann, aus der Mitte des prunkvollen Ballsaals, durchbrach eine kleine Stimme die Musik und veränderte alles.
Der Raum erstarrte. Köpfe drehten sich. Die Kameras, das Gemurmel, selbst die Geigen verstummten.
Die sechsjährige Lina Ritterbach, in einem rosa Satin-Kleid mit einer Schleife im Haar, stand auf Zehenspitzen und zeigte nicht auf eine der eleganten Damen, die vor ihrem Vater Aufstellung genommen hatten – sondern auf Anna, das Zimmermädchen, das schweigend an der Wand Tee eingoss.
**Eine Feier mit Bedeutung**
An diesem Tag ging es nicht um eine gewöhnliche Feier. In Friedrich Ritterbachs Augen war es eine Auswahl.
Vor drei Jahren war seine Frau, Helene, plötzlich an einem Schlaganfall gestorben. Seither hatte er sich in die Arbeit gestürzt – sein Technikimperium ausgebaut, Galas veranstaltet und ein weltweites Netz von Unternehmen gemanagt, das sich von München bis Shanghai erstreckte.
In der Öffentlichkeit wirkte Friedrich stets gefasst: makellos, präzise, unantastbar. Doch hinter den Mauern seiner Villa, die über 3000 Quadratmeter maß, nahm die Trauer eine leise Gestalt an – in Form eines kleinen Mädchens, das seine Mutter vermisste, und eines Vaters, der zu beschäftigt war, um die Stille zu füllen.
Also entschied er sich – auf die ihm typische Art –, das Problem zu lösen.
Er lud zwölf Frauen ein – Models, Influencerinnen und verwitwete Damen der Gesellschaft –, um einen Nachmittag auf dem Anwesen zu verbringen. Offiziell handelte es sich um ein Wohltätigkeitsbrunch, doch jeder wusste, warum sie wirklich da waren.
„Friedrichs Leute sprachen von einer ‚Gesellschafterin‘ für Lina“, erinnerte sich eine Gastgeberin. „Aber es fühlte sich an wie ein Casting – wie eine Szene aus einer Reality-Show, die niemand abgesetzt hatte.“
Lina, wie eine Porzellanpuppe gekleidet, saß neben ihrem Vater am Kopfenden des langen Tisches. Sie lächelte höflich, während die Damen sich vorstellten und ihre Juwelen präsentierten, die unter den Lüstern funkelten.
Anna, das Zimmermädchen, bewegte sich leise am Rande des Raumes – unbemerkt, bis auf das kleine Mädchen, dessen Blick ihr jeden Schritt verfolgte.
**„Du erzählst mir Gutenachtgeschichten, wenn Papa keine Zeit hat“**
Als das letzte Sektglas gefüllt war, verkündete Friedrich seine Entscheidung.
„Schatz“, sagte er, während er sich neben seine Tochter kniete, „du hast alle Damen kennengelernt. Welche meinst du, könnte deine neue Mama sein?“
Ein erwartungsvolles Raunen ging durch den Raum. Die Frauen beugten sich vor, ihre Lächeln sorgfältig kontrolliert.
Doch Lina sah sie nicht einmal an. Ihr kleiner Finger zeigte direkt auf Anna.
„Ich will sie.“
Anna erstarrte mitten in der Bewegung, ein Tablett mit Gebäck zitterte in ihren Händen.
„I-ich? Lina… nein, Kleine, ich bin doch nur—”
„Du bist nett zu mir“, unterbrach Lina leise. „Du erzählst mir Gutenachtgeschichten, wenn Papa keine Zeit hat. Ich will, dass du meine Mama bist.“
Die Stille danach war so schwer, dass selbst das Klirren der Lüster lauter schien.
Friedrichs Kiefer spannte sich. Die höflichen Lächeln der Damen erloschen. Eine lachte gezwungen. Eine andere flüsterte: „Ist das ein Witz?“
Doch Lina scherzte nicht. Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen – nicht aus Verwirrung, sondern aus Überzeugung. „Ich will sie“, wiederholte sie.
**Der Mann, der alles kontrollierte – bis er es nicht mehr konnte**
Zum ersten Mal seit Jahren hatte Friedrich Ritterbach keine Antwort parat.
Er war ein Mann, der Verhandlungstische, Märkte und Übernahmen beherrschte. Aber nichts in seiner Welt der Milliarden-Deals hatte ihn auf die Ehrlichkeit eines Kindes vorbereitet.
Er versuchte, sie zu überzeugen. „Schatz“, begann er sanft, „Anna ist nicht— sie arbeitet für uns. Sie kann nicht deine—”
Doch Lina verschränkte nur die Arme. „Sie ist es schon“, sagte sie leise.
Später in dieser Nacht, als die Gäste fortgefahren waren und das Lachen der Gesellschaftsdamen in den kahlen Fluren verhallte, saß Friedrich allein in seinem Arbeitszimmer. Seine Tochter war oben im Bett – von Anna eingeschläfert, wie immer.
Und zum ersten Mal seit Helenes Tod fragte er sich, ob sein Reich ihm etwas gekostet hatte, das er nie zurückkaufen konnte: Mitgefühl.
**Wer ist Anna?**
Geboren und aufgewachsen in einem kleinen Ort in Sachsen, hätte sich Anna Schröder niemals träumen lassen, dass ihr Leben sich mit dem eines Milliardärs kreuzen würde. Mit Anfang zwanzig war sie nach München gezogen, hatte als Hotelangestellte gearbeitet und nebenher eine Krankenpflege-Ausbildung begonnen.
Als ihre Mutter erkrankte, brach sie ab, um sie zu pflegen, und nahm flexible Haushaltsjobs an. So landete sie schließlich auf dem Ritterbach-Anwesen, zunächst als Aushilfe während der Feiertage.
„Sie war anders“, erzählte Monika, eine andere Angestellte. „Sie hat nicht nur gearbeitet – sie hat sich gekümmert. Sie hat mit Lina über deren Tag geredet, bei den Hausaufgaben geholfen, ihr sogar die Haare vor dem Schlafen geflochten. Nichts davon stand in ihrem Vertrag.“
Für Anna war es kein Mitleid. „Lina erinnerte mich an mich selbst als Kind“, sagte sie später. „Neugierig. Empfindsam. Einfach… einsam.“
**Der nächste Morgen**
Am nächsten Tag fand Friedrich Lina beim Frühstück, ihr Kleid gegen Pyjamas getauscht, ihr Gesicht immer noch entschlossen.
„Wenn du sie nicht bei uns lässt, Papa“, sagte sie mit zitternder, aber fester Stimme, „dann rede ich nicht mehr mit dir.“
Er blickte von seiner Zeitung auf, überrascht. „Lina…“
Sie schüttelte den Kopf, Tränen in den Augen. „Du siehst die Menschen nicht, Papa. Du siehst nur, was sie dir bringen können.“
Diese Worte – zu klug für ein Kind – trafen ihn härter als jeder Börsenverlust.
An diesem Morgen tat Friedrich etwas, das er seit Jahren nicht mehr getan hatte. Er sagte Termine ab. Er saß mit seiner Tochter zusammen, hörte ihr zu, und zum ersten Mal bat er Anna, sich zu ihnen zu setzen.
Keine Formalitäten. Kein Standesdenken. Nur drei Menschen beim Frühstück.
**Wenn Mauern fallen**
In den folgenden Wochen begann sich etwas im Ritterbach-Anwesen zu verändern.
Friedrich bemerkte Details, die er zuvor ignoriert hatte: wie Anna Linas Lieblingsgeschichte auswendig kannte, wie sie Helenes alte Rezepte heimlich nachkochte, wie das Personal sich in ihrer Gegenwart entspannte.
Es war nicht nur ihre Güte – es war, als würde sie sie wie Luft atmen.
Eines Abends, als Lina bereits schlief, fand Friedrich Anna in der Küche beim Abwasch.
„Du weißt, dass sie es ernst meint“, sagte er leise.
Anna lächelte, ohne aufzublicken. „Kinder meinen das meistens.“
Er zögerte. „Du hast mehr für sie getan als jeder andere seit Helene. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“
Da drehte sie sich um, die HSie trocknete sich die Hände ab und antwortete mit leiser Stimme: “Dann lass uns gemeinsam dafür sorgen, dass sie nie wieder so einsam sein muss.”



