Der Anruf, der meine letzte Mission beendete, kam schneller als erwartet. Eben noch überprüfte ich den letzten Sicherheitsbericht im Einsatzraum im Ausland, im nächsten Moment packte ich bereits meinen Seesack.
Vierzig Jahre in Uniform hatten mir beigebracht, schnell zu handeln. Doch dies fühlte sich anders an. Ich verließ nicht nur eine Basis. Ich verließ das Leben, das ich aufgebaut hatte, um mein Land zu schützen – alles davon passte in die Tasche meiner Jacke.
Das Gewicht der Taschenuhr meines Vaters drückte gegen meine Brust. Er hatte sie mir vor meinem ersten Einsatz gegeben und mich gebeten, immer nach Hause zu kommen. Das hatte ich geschafft – immer wieder. Doch diese Rückkehr war ungeplant. Ich hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal meinem Sohn.
Der Nachtflug nach München war ein verschwommener Mix aus Motorengeräusch und ruhelosen Gedanken. Ich starrte aus dem Fenster auf den schmalen Streifen der Morgendämmerung über dem Atlantik und fragte mich, ob David bei der Arbeit oder noch im Bett sein würde, wenn ich an seine Tür klopfte. Ich erinnerte mich an sein Lachen, wie seine Augen sich krümmten – und das reichte, um mich durch die Turbulenzen zu tragen.
Als ich landete, umfing mich die schwüle Hitze wie eine schwere Decke. Der Taxifahrer lud mein Gepäck schweigend ein. „Garmisch-Partenkirchen“, sagte ich und gab ihm Davids Adresse.
Auf der Autobahn wiegten sich die Tannen im feuchten Wind. Ich ignorierte das Engegefühl in meiner Brust. Wir hatten in letzter Zeit kaum gesprochen – mein Dienstplan, sein Leben. Doch ich hatte immer geglaubt, wir könnten einfach wieder anknüpfen.
Als das Taxi in seine Straße einbog, veränderte sich etwas in mir. Der Rasen vor seinem Haus war verwildert. Der Briefkasten quoll über. Die Vorhänge waren fest zugezogen. Es sah nicht aus wie ein Zuhause. Es sah verlassen aus.
Ich stieg aus, die Hitze biss in meinen Nacken, und gerade als ich klopfen wollte, rief eine bekannte Stimme von gegenüber. Frau Schneider, Davids Nachbarin seit seinem Einzug, stand mit einer Gießkanne in der Hand, ihr Gesicht blass.
„Klara“, sagte sie und kam hastig herüber. „Sie wissen es noch nicht, oder?“
Meine Stimme war ruhig, doch meine Finger umklammerten die Uhr. „Was ist passiert?“
„David liegt seit zwei Wochen auf der Intensivstation. Sie haben ihn nachts mit dem Krankenwagen abgeholt. Und Sabine“ – sie zögerte, blickte zur Seite – „sie war auf einer Yacht am Chiemsee. Hat überall auf Facebook Bilder gepostet.“
Die Luft schien dichter zu werden, ihre Worte sanken wie Blei in meiner Brust. Ich erinnerte mich nicht an die Fahrt zum Klinikum Garmisch. Eben stand ich noch in Davids Garten, im nächsten Moment schob ich mich durch die Glastüren des Krankenhauses, mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren.
Der Geruch von Desinfektionsmittel hing scharf in der Luft – der Art, die noch an der Kleidung haftet, lange nachdem man gegangen ist. An der Rezeption nannte ich meinen Namen und seinen. Die Schwester erkannte mich und wies mich zur Intensivstation. Fünfte Etage. Zimmer 512.
Ich nahm den Aufzug, die Taschenuhr meines Vaters so fest umklammert, dass das Metall in meine Handfläche drückte. Der Flur war still, nur das monotone Piepen der Überwachungsgeräte durchbrach die Ruhe. Als ich Davids Zimmer betrat, wurde es lauter. Unausweichlich.
Mein Sohn lag im Bett, seine Haut blass, seine Gestalt unter dem Krankenhemd geschrumpft. Schläuche und Kabel überzogen ihn wie eine grausame Landkarte.
Ein Mann im weißen Kittel wandte sich vom Monitor. „Ich bin Dr. Markus Berg“, sagte er mit leiser, fester Stimme. „Ihr Sohn hat fortgeschrittenen Magenkrebs. Hätten wir es früher erkannt, wäre vielleicht mehr Zeit gewesen. Er liegt seit zwei Wochen hier. Keine Besucher.“
Die Worte fühlten sich unwirklich an, als gehörten sie zu einem fremden Leben. Ich trat näher, meine Finger streiften seinen Handrücken. Seine Haut war kühl, die Adern zerbrechlich unter meiner Berührung. Seine Lider zuckten.
Langsam öffneten sie sich, und ich sah dieselben haselnussbraunen Augen, die ich schon als Kind auf dem Fußballplatz hatte leuchten sehen. „Ich liebe dich, Mama“, flüsterte er, seine Stimme kaum hörbar.
Bevor ich antworten konnte, verwandelte sich das monotone Piepen in einen langen Ton. Schwestern eilten herein, und Dr. Berg drängte mich in den Flur. Ich stand wie erstarrt, hörte die Kommandos, das Geräusch von Schritten, den dumpfen Aufprall von Händen auf seiner Brust.
Minuten später öffnete sich die Tür. Der Arzt trat heraus, sein Gesicht schwer. „Es tut mir leid. Wir haben alles getan.“
Die Uhr in meiner Hand fühlte sich schwerer an als je zuvor. Und alles, was ich dachte, war: Ich bin zu spät gekommen.
Ich fuhr zurück zu Davids Haus, der Krankenhausgeruch hing noch an mir. Der Schlüsselbund fühl sich fremd an, als ich auf die Veranda trat. Als ich die Tür öffnete, schlug mir eine modrige Welle entgegen – die Art von Luft, die sich bildet, wenn sich Wochenlang niemand um einen Ort kümmert.
Das Wohnzimmer war düster. Die Vorhänge zugezogen. Leere Gläser standen auf dem Couchtisch, eine dünne Staubschicht auf den Rändern.
In der Küche stapelten sich Takeaway-Behälter und schmutziges Geschirr unordentlich im Becken. Das Summen des Kühlschranks war das einzige Lebenszeichen. Auf der Arbeitsplatte lehnte ein Stapel ungeöffneter Briefe an der Wand.
Ich durchsuchte die Umschläge – Mahnungen für Stromsperren, überfällige Kreditkartenabrechnungen, verspätete Hypothekenzahlungen. Mein Brustkorb schnürte sich zu, als ich sie durchblätterte. David war niemals leichtfertig mit Geld gewesen.
Ich ging in sein kleines Büro, der Stuhl stand schief, als wäre jemand in Eile aufgestanden. Papiere bedeckten den Schreibtisch – einige zerknüllt, andere ordentlich gefaltet. Darunter fand ich einen dicken Stapel Quittungen.
Die erste war für eine Yachtmiete am Starnberger See: 150.000 Euro – datiert auf die gleiche Woche, in der David ins Krankenhaus gekommen war. Eine weitere von einem Luxusgeschäft in München zeigte fast 200.000 Euro für Schmuck. Es gab Abendessen in Seebädern, Designer-Kleidung – alles mit Davids Karte bezahlt. Die Daten passten zu genau zu den Tagen, von denen ich wusste, dass er im Krankenhaus lag.
Ich ließ mich schwer in den Schreibtischstuhl fallen, die Quittungen zitterten in meinen Händen. Sabines Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf – das Lächeln, das sie in den sozialen Medien zur Schau gestellt hatte, wie Frau Schneider es beschrieben hatte. Ich hatte ihr vertraut, an Davids Seite zu stehen, für ihn zu sorgen, wenn ich nicht da sein konnte. Stattdessen hatte sie seine Konten geplündert, während er allein um sein Leben kämpfte.
Ich legte die Quittungen ordentlich zu einem Stapel – jede eine stille Anklage – und wusste, dass dies erst der Anfang dessen war, was ich finden würde.
Ich legte die Quittungen auf den Couchtisch, meine Finger umschlossen mein Telefon. Ihre Nummer war noch gespeichert, obwohl ich sie seit Monaten nicht genutzt hatte. Einen Moment lang starrte ich auf den Bildschirm, mein Daumen zögerte, doch das Gewicht meiner Entdeckung trieb mich voran.Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Vorhänge fielen, nahm ich die Taschenuhr meines Vaters und ging zum Schreibtisch, bereit, die letzte Schlacht zu führen.



