**Tagebucheintrag**
Zwölf Jahre lang war der Spitzname „Tochter der Müllfrau“ wie eine Narbe, die sich nicht verheilen wollte. Für mich, Lina Bauer aus Berlin-Neukölln, war er eine ständige Erinnerung an ein Leben ohne Vater.
Mein Vater starb, bevor ich geboren wurde. Zurück blieb eine schmächtige Mutter mit schwieligen Händen, nach Schweiß und Staub riechend: Marlene, die mit ihren Händen im Müll wühlte, um uns beide durchzubringen.
Am ersten Schultag trug ich einen alten Rucksack, den meine Mutter genäht hatte. Die Uniform war abgetragen, die Knie geflickt, und meine Schuhe aus Plastik waren rissig. Kaum betrat ich das Klassenzimmer, fing das Geflüster an:
„Das ist doch die Tochter von der Müllfrau.“
„Die riecht bestimmt nach Abfall.“
In der Pause saß ich allein unter einer Linde und aß trockenes Brot, während andere belegte Brötchen und Pasta verschlangen. Einmal stieß mich ein Mitschüler, und mein Brot fiel zu Boden. Statt wütend zu werden, hob ich es auf, wischte den Dreck ab und aß weiter, während ich die Tränen hinunterschluckte.
Die Lehrer hatten Mitleid, ändern konnten sie nichts. Jeden Abend ging ich mit schwerem Herzen nach Hause, doch im Ohr hallten die Worte meiner Mutter:
„Lern, Kind. Damit du nicht so endest wie ich.“
In der Oberstufe wurde es noch härter. Während die anderen neue Handys und Markenklamotten hatten, trug ich dieselbe geflickte Uniform. Nach der Schule half ich meiner Mutter, Flaschen und Dosen zu sortieren, die wir zum Recyclinghof brachten, bevor es dunkel wurde. Meine Hände waren oft voller Kratzer, doch ich beschwerte mich nie.
Eines Tages, als wir Plastik in der Sonne trockneten, lächelte meine Mutter müde und sagte:
„Eines Tages wirst du auf einer Bühne stehen, und ich werde dir stolz zujubeln – egal, ob ich noch voller Schmutz bin.“
Ich antwortete nicht. Ich versteckte nur meine Tränen.
An der Uni jobbte ich als Nachhilfelehrerin. Jeden Abend holte ich meine Mutter von der Müllsortieranlage ab, bevor wir schwere Säcke nach Hause schleppten. Während andere schliefen, büffelte ich bei Kerzenlicht, während der Wind durch das kleine Fenster unserer Wohnung pfiff.
Zwölf Jahre Opfer. Zwölf Jahre Spott.
Bis zum Tag der Abschlussfeier. Ich wurde zur „Besten Absolventin des Jahres“ gekürt.
Ich trug meine alte, geflickte Bluse. Ganz hinten im Saal saß meine Mutter – verschmutzt, mit abgewetzten Ärmeln, aber mit einem Lächeln, das vor Stolz fast platzte.
Als ich auf die Bühne gerufen wurde, klatschte das ganze Gymnasium. Doch als ich das Mikrofon nahm, wurde es mucksmäuschenstill.
„Zwölf Jahre lang nannte man mich die Tochter der Müllfrau“, begann ich mit zitternder Stimme. „Ich habe keinen Vater. Meine Mutter – die Frau da hinten – hat mich allein großgezogen. Mit Händen, die nichts als Dreck kannten.“
Niemand rührte sich.
„Als Kind schämte ich mich für sie. Ich hasste es, wenn sie vor der Schule Flaschen sammelte. Doch irgendwann verstand ich: Jede Flasche, jedes Stück Metall, das sie aufhob, war ein Stück meiner Zukunft.“
Ich holte tief Luft.
„Mama, es tut mir leid, dass ich mich geschämt habe. Danke, dass du mein Leben geflickt hast, wie du meine Schuluniform geflickt hast. Ich verspreche dir: Ab heute bist du mein größter Stolz. Du musst nie wieder den Kopf senken. Das übernehme ich jetzt für uns beide.“
Der Direktor war sprachlos. Schüler wischten sich heimlich die Augen. Und in der letzten Reihe weinte Marlene, die schmutzige, abgearbeitete Müllfrau, leise vor Glück.
Seit diesem Tag nannte mich niemand mehr „Tochter der Müllfrau“. Stattdessen wurde ich zum Vorbild der Schule. Selbst die, die mich einst mieden, kamen und entschuldigten sich.
Doch jeden Morgen sitze ich noch immer unter der Linde, lese ein Buch und esse mein Brot.
Denn für mich, Lina Bauer, ist kein Diplom so wertvoll wie das Lächeln der Frau, für die ich mich einst schämte – die sich aber nie, nie für mich schämte.



