Es ist kurz nach 1 Uhr nachts, als der kleine Theo Bauer mit seiner Baby-Schwester im Arm die Notaufnahme des St. Elisabeth-Krankenhauses in Freiburg betritt. Das dünne, verblasste gelbe Tuch, in das das Mädchen gewickelt ist, bietet kaum Schutz gegen die eisige Winterluft, die mit ihm hereinkommt. Die automatischen Türen gleiten auf, ein kalter Windhauch streift seine kleinen, bloßen Füße.
Die Schwestern am Empfang blicken auf, überrascht, ein Kind allein hier zu sehen.
Schwester Lena Schmidt ist die erste, die auf ihn zugeht. Ihr stockt der Atem, als sie die blauen Flecken an seinen Armen und die kleine Wunde über seiner Augenbraue bemerkt. Langsam kniet sie sich hin und spricht mit sanfter, beruhigender Stimme.
„Schatz, geht es dir gut? Wo sind deine Eltern?“, fragt sie, während sie in seine weit aufgerissenen, ängstlichen Augen blickt.
Theos Lippen zittern. „Ich… ich brauche Hilfe. Bitte… meine Schwester, sie hat Hunger. Und… wir können nicht nach Hause“, flüstert er mit brüchiger Stimme.
Lena zeigt ihm einen Stuhl in der Nähe. Unter dem grellen Licht der Krankenhauslampe werden die Spuren von Gewalt an seinen Armen deutlich – dunkle Fingerabdrücke zeichnen sich durch sein dünnes Kapuzenpullover ab. Das Baby, wohl etwa acht Monate alt, regt sich schwach in seinen Armen, die winzigen Händchen zucken.
„Hier bist du in Sicherheit“, sagt Lena leise und streicht ihm eine Strähne aus der Stirn. „Wie heißt du?“
„Theo… und das ist Lina“, antwortet er und drückt die Kleine fester an sich.
Innerhalb weniger Minuten treffen Dr. Markus Vogel, der diensthabende Kinderarzt, und ein Sicherheitsbeamter ein. Theo zuckt bei jeder abrupten Bewegung zusammen und schützt Lina instinktiv mit seinem Körper.
„Bitte nehmt sie mir nicht weg“, fleht er. „Sie weint, wenn ich nicht bei ihr bin.“
Dr. Vogel geht in die Hocke und spricht ruhig. „Niemand nimmt sie dir weg. Aber Theo, ich muss wissen: Was ist passiert?“
Theo wirft einen nervösen Blick zur Tür, bevor er antwortet. „Mein Stiefvater… er schlägt mich, wenn Mama schläft. Heute Abend wurde er wütend, weil Lina nicht aufhören wollte zu weinen. Er hat gesagt… er würde sie für immer ruhig stellen. Da musste ich gehen.“
Die Worte treffen Lena wie ein Schlag. Dr. Vogel tauscht einen ernsten Blick mit dem Sicherheitsbeamten aus, bevor er die Sozialarbeiterin verständigt und die Polizei informiert.
Draußen peitscht der Wintersturm gegen die Fenster, Schnee türmt sich in stillen Haufen. Innen hält Theo Lina fest umklammert, ohne zu wissen, dass sein Mut bereits eine Rettungskette in Gang gesetzt hat.
Kriminalhauptkommissar Felix Bergmann trifft innerhalb der Stunde ein. Sein Gesicht wirkt ernst unter dem grellen Neonlicht. Er hat viele Fälle von Kindesmisshandlung bearbeitet, aber nur wenige begannen damit, dass ein siebenjähriger Junge mitten in der Nacht mit seiner Schwester im Arm ins Krankenhaus kommt.
Theo beantwortet die Fragen leise, während er Lina sanft wiegt. „Weißt du, wo dein Stiefvater jetzt ist?“, fragt der Kommissar.
„Zu Hause… er hat getrunken“, erwidert Theo mit fester Stimme, obwohl seine Augen vor Angst glänzen.
Felix nickt Polizistin Katja Weber zu. „Schickt eine Streife zum Haus. Vorsichtig, wir haben gefährdete Kinder.“
Währenddessen untersucht Dr. Vogel Theos Verletzungen: alte Hämatome, eine gebrochene Rippe und Spuren von wiederholter Misshandlung. Die Sozialarbeiterin Sabine Meier bleibt an seiner Seite und flüstert beruhigend: „Du hast alles richtig gemacht, indem du hierhergekommen bist. Du bist unglaublich mutig.“
Gegen drei Uhr morgens erreichen die Beamten das Haus der Familie Bauer, ein bescheidenes Reihenhaus in der Lindenstraße. Durch die vereisten Fenster sehen sie, wie der Mann auf und ab läuft und in den leeren Raum brüllt. Als sie klopfen, verstummt das Geschrei abrupt.
„Thomas Bauer! Polizei! Öffnen Sie die Tür!“, ruft ein Beamter.
Keine Antwort.
Sekunden später fliegt die Tür auf, und Thomas stürzt mit einer zerbrochenen Flasche auf sie zu. Die Beamten überwältigen ihn schnell und entdecken ein Wohnzimmer, das von Wut zeugt – Löcher in den Wänden, ein zertrümmertes Kinderbett und einen blutverschmierten Gürtel über einem Stuhl.
Felix atmet erleichtert aus, als er die Bestätigung über Funk hört. „Er wird niemandem mehr wehtun“, sagt er zu Sabine.
Theo, der Lina festhält, nickt nur. „Können wir heute Nacht hier bleiben?“, fragt er leise.
„Ihr könnt bleiben, solange ihr wollt“, erwidert Sabine mit einem Lächeln.
Wochen später ist das BeweisMonate später, während Theo und Lina bei ihren liebevollen Pflegeeltern, Anna und Klaus Weber, ein neues Zuhause finden, blüht Theo langsam auf, während Lina ihre ersten Schritte macht und dabei immer wieder nach seinem ausgestreckten Finger greift.



